Die Ersten

Schneider wollte erst gar nichts unternehmen. Er war mit der Hälfte der Garnison angekommen, hatte sich keuchend zum Doktor gesetzt und berichten lassen. Der Doktor hatte ihm fürsorglich die Schulter gestreichelt, mit einem vorwissenden Lächeln. Fäs hatte in den Minuten, als Anna in die Liebrüti hinauf telefoniert hatte, aus Mutwille oder Vorauseile eines der Taue gelöst. Regner hatte ihn daran gehindert, auch das zweite Tau zu lösen. Das Schiff zerrte an dem einen Poller wie ein zurückweichendes Pferd, das in Angst seinen Kopf verwirft. Immer wieder glitt sein Hinterteil hinaus in den Fluss, um in einer langsamen Bewegung wieder am Kai anzuschlagen. Schneider war auf den zweiten Stuhl an Doktors Tisch gefallen. Sein Wams hatte er inzwischen sorgfältig gefaltet vor sich auf den Tisch gelegt. Von dem Marsch hinunter an den Fluss war er vollkommen durchnässt, sein Gesicht war hochrot. Anna konnte fast sehen, wie das Blut sich in seinen wütenden Wangen staute und pulsierte. Drüben auf dem Schiff wanderten immer noch die Lumpengestalten herum, einige hatten noch einmal zu singen versucht, aber in Wind und Regen trug das Lied nicht. Einige ältere Kinder standen an der Reling des Schiffs und blickten zu ihnen hinüber. Sie konnte sie nicht mehr anblicken, nachdem sie ein rotes Auge und blosse Zähne gesehen hatte, hängend und blinkend. Sie stand mit verschränkten Armen am Tisch und starrte auf Schneider herunter. Seine Männer hatten sich im Halbkreis im Ufer aufgestellt. Vielleicht war auch Regine darunter, aber unter ihren Kapuzen konnte sie keine Gesichter erkennen. Sie wusste, dass auch Schneider nicht verstand. Aber er war der Wachtmann, hatte also zu entscheiden. Wieder sagte sie: „Was ist zu tun?“ Diesmal fügte sie hinzu: „In aller Güte zum Land, Wachtmann, gibt es nicht etwas zu entscheiden?“ Sie benutzte bewusst den Spruch der RETTUNG, weil sie die Liebe Schneiders zu solchen Formeln kannte. Ein wenig freute sie sich auch darüber, wie korrekt sie sich ausgedrückt hatte. Schneider sollte ihr nicht umsonst beigebracht haben, wie die Sprache nach Erling zu entschärfen war. Der Doktor nahm sein spitzes Kinn von Schneiders Schulter und schaute zu ihr auf. „Die Zeit gibt Rat,“ sagte er und meckerte sein Lachen. Schneider zuckte über den hellen Laut an seinem Ohr zusammen und hob seinen Blick vom Tisch. Der Wolkenträger war aufgestanden und um Anna herumgegangen, hatte mit der Hand über ihre Schulterblätter gestrichen und weitergekichert. Er schlenderte zum Schiff hinüber und schlenkerte dabei stark mit den Armen. Fäs und Regner, die am Kai standen, um ein Aussteigen der Kinder zu verhindern, machten ihm Platz. Beide wichen vor ihm zurück, traten links und rechts zur Seite, als träten sie aus einem dunkeln Schatten. Sie sah Regner kräftig den Kopf schütteln, Fäs hatte ein Zucken in den Schultern, ballte die Fäuste. Schneider unter ihr räusperte sich. „In aller Güte zum Land, ja,“ wiederholte Schneider. Er fuhr sich mit beiden Händen durch das nasse Haar, das so einen schwarzen Helm auf seinem Kopf bildete. Seine flache Kopfform war jetzt noch besser zu sehen. Sie verlieh ihm den Ausdruck einer arglosen Echse. „In aller Güte,“ sagte er nochmals und fuhr fort, „ich habe davon gehört, Schweigerin, es gibt diese neue Strömung. Sie wollen den Kindern eine Art von Freiheit wiedergeben. Übersehen aber dabei die Verwendung der Kinder. Wenn nicht gar ihre anderweitig für unmöglich geschätzte Nützlichkeit. Immerhin meistens terminale Stadien. Und die Verwendung der Kinder lässt keine Freiheit zu. Das Leben der Kinder hat keinen Nutzen über ihre Arbeit hinaus… Steht es nicht so in den Badener Akten?“ „Badener Akten?“ Fragte Anna nach. Sie hatte davon noch nie gehört. „Ich glaube, es ist unter Paragraf 15 zu finden, Ergänzung C,“ sagte Schneider und zitierte: „Für eine neue Zukunft muss die alte Zukunft sterben.“ Er blickte zu ihr hinauf und probierte ein Lächeln. „Was heisst denn nun Freiheit, was heisst denn nun Bestimmung?“ Er klatschte mit beiden Handflächen auf den Tisch. Beim dumpfen Knall drehten sich Regner und der Doktor um. Schneider schob den Tisch von sich und stand auf. „Wagenheber,“ rief er den Doktor an, „genaueste Untersuchung, genaueste Erfassung. Ich möchte Namen wissen, ich möchte Herkunft wissen. Ich möchte wissen, woher.“ Der Doktor stakste zum Tisch zurück. Auf seinem Gesicht war unverhohlene Freude, es war sein Glückstag. Er rückte seinen zurückgestossenen Stuhl sorgfältig an den Tisch zurück, richtete diesen aus, legte sich die umgefallen Aktentasche auf den Schoss. Während der Doktor eine Plastikplane über den Tisch warf, seine Blätter sorgfältig vor sich bündelte und ein rundes Köfferchen öffnete, das unter den Tisch geschoben war, nahm Schneider sie am Arm und führte sie zum Wasser hinunter. „Das ist alles ganz und gar nicht gut, Anna, aber du hast es gut gemacht,“ sagte er dort und hielt ihren Arm immer noch fest. „Ich hätte es lieber gehabt, wenn dieses Schiff nicht gekommen wäre. Aber wo es jetzt da ist, dürfen wir es nicht wieder wegschicken. Ich weiss, dass wir in den Menschen dort oben immer noch Menschen sehen. Unfertige, zerfallende Menschen. Durch unsere Schuld zerfallend, durch unsere Schuld unfertig, wer weiss es denn so genau. Und ich weiss nicht, ob Erling sich seine Welt so vorgestellt hat. Rekruten wie du sind wahrscheinlich entsetzt darüber, wenn ihr die Zustände hier draussen mit jenen in den Büchern Erlings vergleicht.“ Anna machte einen Schritt von Schneider weg, er musste ihren Arm loslassen. „Verzeihung,“ sagte er und fragte: „Hörst du mir zu?“ Auf dem Schiff ihnen gegenüber hatten sich mehrere Figuren zusammengefunden und starrten auf sie hinunter. Der leichte Regen verstärkte den Eindruck ihres Schwankens. Aus einer Kehle kam ein Keuchen. Wortlos lehnten sie sich an die niedrige Reling des Schiffs. Unter ihren Kapuzenmänteln konnte man nicht erkennen, ob es Mädchen oder Jungen waren. Anna fühlte sich unwohl mit Schneider an ihrer Seite. „Was wird mit ihnen geschehen?“ fragte sie und korrigierte sich: „Was werden wir mit ihnen machen?“ Schneider schnaubte: „Wieviele Entladungen?“ Anna verstand erst nicht, dann antwortete sie: „Fünf Entladungen habe ich schon gemacht, Wachtmeister.“ „Also so gut wie keine,“ Schneiders Stimme war bestimmt, „ich muss es dir nicht sagen, weil ich es dir gerade gestern bei der Lagebesprechung gesagt habe, jede Entladung ist anders, ist eigen. Diese hier ist die Erste, die uns herausfordert. Niemand ist darauf vorbereitet. Aber ich gehe fast davon aus, dass es nicht die Letzte sein wird. Darauf können wir gefasst sein, darauf können wir uns einstellen.“ Schneider hob seinen schweren Kopf und blickte die am nächsten stehende Gestalt an. „Kannst du reden?“ fragte er zum Schiff hinauf. Die Gestalt hörte mit ihrem Schwanken auf und beugte sich weit über die Reling hinaus. Fast war ihr Kopf auf der Höhe von Schneiders Kopf. „Was?“ sagte eine helle Mädchenstimme. „Ob du reden kannst, habe ich gefragt,“ sagte Schneider. „Reden ist nicht mehr nötig,“ sagte das Mädchen, „reden ist… überflüssig. Alles ist schon geschehen.“ Ein Kichern entstand unter der grauen Kapuze und wurde zum Husten. Schneider wandte sich wieder Anna zu. „Es gibt noch keine Direktiven von der VZS. Unsere Entscheidung wird uns lehren, was zu tun gewesen wäre.“ Schneider und seine Direktiven, Sendschreiben und Formeln, dachte Anna. Wieder fühlte sie den Sog in eine Mitte, die abseits der Wirklichkeit lag. Wie das Herz nicht in der Mitte der Brust sass. So eingemittet, war die Verwirrung geringer, waren die überflüssigen Gedanken bedeckt vom Schatten der dauergerollten Sprüche und Schlagworte. Das Leben der Kinder ist ein Sterben der Kinder, dachte sie. Schneider hatte sich von ihr weggedreht und gestikulierte zu Fäs und Regner hinüber. In ihren Ohren rauschte es. Sie berührte ihre heissen Wangen und klatschte mehrmals darauf. Im Aufblicken trafen sich ihre Blicke, die noch ganz erfüllt waren vom gelben Strudel des Flusses zwischen Kai und Schiffsrumpf, mit denen des Kindes. Das Mädchen war immer noch über die Reling gebeugt. Anna erschrak. Aus dem Mund des Mädchens tropfte eine gelbliche Flüssigkeit, blieb in langen Fäden am Kinn des Mädchens hängen. Das Mädchen seufzte, ächzte. Sein ganzer Körper bog sich puppenhaft. Aus dem Augenwinkel sah Anna, wie Regner das Tau auswarf und zusammen mit Fäs das Achterheck des Schiffs wieder am Kai vertäute. Die beiden Männer rückten die Landungsbrücke wieder ans Schiff heran und sicherten sie mit den schweren Haken an der Reling. Schneider stand mit den Händen auf dem Rücken auf dem Kai, sein Bäuchlein unter dem offenen Mantel sichtbar, ein Bild der Zufriedenheit mit der Wirklichkeit. Das Rauschen in ihren Ohren wurde von den Rufen der Männer gespalten. Langsam schritt sie zum Tisch des Doktors zurück. Dieser hatte seine Kladde aufgeschlagen und schrieb bereits darin. Seine Zungenspitze schlüpfte zwischen den Lippen hervor, einmal rechts und einmal links. Er hob kurz den Kopf, seine Augen schimmerten sehr dunkel, sein Atem ging schnell und flach. Sein Gesicht fiel beim Sprechen jetzt stärker auseinander. „Ich beginne bereits mit den Prä-li-mi-narien,“ sagte er, „sonst verzögere ich nur den Prozess.“ Die ersten Kinder betraten den Kai. Anna blickte sich nach Kalmer um, den sie nicht mehr gesehen hatte, seit sie vom Schiff gegangen war. Sie fand ihn nicht auf dem Kai, entdeckte ihn aber unter den Kindern. Eben stieg er vom Schiff. Seine schmächtige Gestalt hatte sich unter den Kindern verloren. Er war also entgegen ihres Verbots auf das Schiff gestiegen. Ihre Blicke trafen ihn und riefen ihn zu sich. Sie hielt ihn an der Schulter fest, denn er wollte an ihr vorbeischlüpfen. Unter seiner Kappe war sein Gesicht gerötet und schwitzte. Sie wartete, bis er seinen Kopf gehoben hatte. Seine Augen waren schwarz, nur Pupillen. Sie legte ihre Finger eng aneinander und formte damit eine geschlossene Knospe, den Handrücken gegen aussen, führte damit zwei herausfordernde, ruckende Bewegungen in seine Richtung aus. Kalmer zuckte mit den Schultern und zeigte zwei Wörter. Mit der rechten Hand bildete er einen Haken, mit dem er im Uhrzeigersinn eine Spirale in die Luft zeichnete. Darauf liess er seine ausgestreckten Zeigefinger vor seinem Bauch zusammenstossen. Sein Mund formte das Wort für „Schwester“. Sie nickte ihm zu und liess seine Schulter los. Kalmer stellte sich in den Rücken des Doktors und verschränkte die Hände hinter dem Rücken. „Schweighöfer, wo bleiben Sie?“ rief dieser sie jetzt an. Das Namensbuch lag bereits auf dem Tisch. Wer hatte es für sie geholt? Sie hatte ihre Aufgabe vergessen. Fäs hatte sich an der Landungsbrücke positioniert und half stolpernden Kindern wieder auf. Regner stand neben Schneider auf dem Weg zum Tisch und betrachtete wie dieser die Kinder. Sie sprachen unterdrückt miteinander, kurze klare Worte. Anna setzte sich an den Tisch. Wie schon das letzte Mal hatte sich der Doktor den besseren Stuhl genommen. Ihr Stuhl war klein und wackelte. Sie musste ihren Oberkörper recken, um überhaupt schreiben zu können. Ihre Ellbogen waren knapp unterhalb des Tischrands. Sie strich sich das nasse Haar aus der Stirn und nahm ihren Stift aus der Innentasche ihrer Jacke. Vor ihr stand ein hochgewachsener, magerer junger Mann. Er trug weder Hemd noch Jacke, sein weisser, haarloser Oberkörper leuchtete fast. Die Brustwarzen waren schwarz in der Kälte. Die Augen darüber waren sandfarben, der Kopf sehr rund und kahl. Einen Moment fielen seine Augen in ihre, ihre in seine. Dann löste sich der Augenblick, die Augen fanden ihre Freiheit wieder. „Name?“ fragte sie, die Augen auf dem Buch, und schrieb unter der letzten Liste das Datum. „Bleicher Johannes,“ sagte der junge Mann und schwankte vornüber. Jetzt stand Schneider an seiner Seite und hielt ihn am Oberarm fest. „Schweighöfer,“ sagte Schneider, „worauf wartest du? Komm mit, wir reden mit dem Kapitän.“ Sie wollte einwenden, „Aber die Namen“, doch er schüttelte den Kopf und machte mit der Hand die Bewegung des Aufstehens. „Wagenheber, machen Sie weiter,“ hiess sie den Doktor, der bereits an dem jungen Mann herumtastete. Gerade hatte er den Mund geöffnet und schaute sich die Zähne an. „Ja, machen’s nur,“ knurrte er mit einem Seitenblick, „ich kann auch zählen und schreiben.“ Und zu Schneider gewandt: „Ihre Männer wissen, was tun?“ Schneider nickte und sagte: „Sie wissen, was tun, Medizinmann.“ Anna ging mit Schneider zum Schiff, an der Schlange von schlurfenden Figuren vorbei.


(Bild von StockSnap auf Pixabay.)

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