Noomis Lied

Mara hiess ich mich,
aber es gab noch Korn,
Verbitterte nannte ich mich,
doch es gab noch Treue,
die Brust Gottes war keine Faust. SELA

Das Land Juda war ausgehungert,
das Volk Juda war ausgetrocknet,
kein Korn neigte sich im Wind,
auf den Dreschplätzen wirbelte Staub,
die Kühe und das Kleinvieh längst geschlachtet,
rundumher nur trockene Brunnen, leere Speicher,
da floh ich auf die Felder Moabs,
half beim Ernten, half beim Dreschen,
denn selbst in der Fremde fand ich Wohlgefallen,
denn in der Fremde fand ich Menschen vor Gott,
der nährt und nimmt, nichtet und nährt,
der säugt und sammelt,
der liest und lässt,
der zerwirft und zerstreut,
und die Felder Moabs haben mich genährt. SELA

Noomi hiessen sie mich,
denn es gab wieder Korn,
Liebliche nannten sie mich,
denn es gab stets Treue,
die Brust Gottes ist keine Faust. SELA

In der Fremde fand ich eine Freundin,
an die ich mich hing,
die sich an mich hing,
wo du hingehst, da geh ich hin,
wo du bleibst, da bleibe ich,
wo du stirbst, da will ich begraben sein,
so sagt Rut,
ein Mädchen aus den Feldern Moabs,
dein Volk ist mein Volk, dein Gott ist mein Gott,
der dich nährt und tränkt, nichtet und nährt,
wo du fremd bist, da bin ich fremd,
wo du ankommst, da will ich ankommen,
und seien es die Felder Judas. SELA

Mara hiess ich mich,
aber es gab noch Korn,
Verbitterte nannte ich mich,
doch es gab noch Treue,
die Brust Gottes war keine Faust. SELA

Das Land lief über vor Gerste,
das Land war feucht wie die Zunge Gottes,
das Land ist wie der Brunnen von Gibeon,
und Rut liest Ähren,
liest Ähren für mich auf den Feldern Judas,
liest Korn um fliegendes Korn auf den Feldern Judas,
für mich und sich,
eine Frau unter Wölfen,
aber einer sagte zu ihr,
so tauche dein Brot in die säuerliche Tunke,
scheue dich nicht beim Lesen des Korns,
und die Felder Judas haben mich genährt,
sie und mich, zwei Frauen unter Schakalen,
doch Schaddaj, der nährt und nichtet, nimmt und nährt,
sandte ein Antlitz, das sich uns zuwendet,
tauche nur deinen Bissen in die Würztunke, so sagte der Held meiner Freundin,
die in der Fremde Treue findet,
Heimat hat in Juda und in Gott, der nährt und nichtet,
auf den Feldern Judas nimmt und nährt.

Noomi hiessen sie mich,
denn es gab wieder Korn,
Liebliche nannten sie mich,
denn es gab stets Treue,
die Brust Gottes ist keine Faust.

(Für das Bild bedanke ich mich bei geraldfriedrich2.)

Das letzte Mahl

Du bist eine Waise,
du bist eine Witwe,
verlassen und verloren bist du,
deine Kehle lechzt nach einem Gastmahl,
das nicht nähre noch stärke,
nach einer letzten Speisung, die erfülle und erlöse,
so zerreisse nicht Kleid noch Körper,
zerreisse das warme, ölige Brot,
tunke ein in den Saft des Bratens,
streue Dill wie Aleph über die Linsen,
blättere das Schin des Korianders über das saftende Opfer,
schenke ein vom herben Wein,
stosse auf die Hand deines Sohnes,
finde die Hand deiner Mutter in der dampfenden Schüssel,
zerbeisse den Kümmel und schmecke seine dunkle, bauchige Schärfe,
die dir Tränen bringt,
auf dass du weinest über die Gottesgaben,
auf dass du preisest die, die dich mit ihren Gaben so reichlich erfüllt hat. SELA

Schenke nach vom mundverziehenden Wein,
der gemacht ist für die Fröhlichkeit,
für Tanz und Lied,
lass das Brot saugen vom Olivenöl wie die dürre Kruste deines Herzens,
lass dein Herz sich ausdehnen und weiten wie dein Land unter dem Regenguss,
glaube für Augenblicke an eine auffliegende Erde,
an eine in den Himmel flatternde Einsicht,
aufsteigend aus dem Schattendickicht deines Morgens,
an eine heile Leber,
du bist ohne Freude,
du bist ohne Zuneigung,
doch rolle die Nüsse auf der Zunge,
fühle sie knacken unter deinen Zähnen,
aufbrechen wie verhärtete Muskeln,
fühle den beissenden Rauch des Feuers in den Augen,
spüre den beissenden Knoblauch und die Würze der Zwiebel,
weide dein Auge am schweren, runden Feigenkuchen,
das wie Samech in seiner Runde ruht, feucht und fett,
verlass dich auf das Fleisch,
wie ist die zarte Schulter des Kalbs doch verlässlich,
so neige dich über das Rückenfleisch des Kalbs,
erkenne das leise seufzende Reissen, wenn du es teilst, als Gesang der Güte,
als Lied der Liebe,
als Einsicht in Gemeinschaft,
Gemeinschaft im Hunger, Gemeinschaft im Durst,
schenke ein vom bescheidenen Wein,
der nach Zimt duftet,
lass dir den Honig in den Bart rinnen und wische ihn nicht ab,
denn die, dich erschuf als Witwe und Waise, will dir wohl.

(Mit Dank an Vilkass für das Bild.)