Gekritzel im Mittag (5. Tag)

Hart ist dieser Stein
Auf dem ich sitze
Kein Häutchen und kein Lid bedeckt ihn

Was denken seine leuchtenden Flechten?
Was denkt der Regentropfen
Der auf ihn fällt?

Die Haare wuchern im Gesicht
Meine Nägel krallen sich um die Knie
Messen meine Zeit in den Tod hinein

Bloss ist dieser Stein
Unterm immer drehenden Firmament
Ungerührt dauert er aus

Und ich die Schminke
Vergängliche Kruste aus Eigenwille und Ruhmsucht
Aus Zukunftsschau und Morgentau

Eine Möglichkeit
Sich erfolgreich
Von der Welt abzuwenden

Durch die Schminke überm Abgrund
Hindurchzustossen und
Auf den Stein zu kommen.

(Bild von Frank Winkler auf Pixabay.)

Zwie-Gesang der Hyänen und Töchter in den Ruinen

Was tanzt ihr Mädchen auf den schiefen Türmen und aufgebrochenen Toren in den Ruinen,
was verrenkt ihr im wilden Reigen eure schönen Kehlen,
was erklingen eure Stimmen heiser und scharf wie die lidlosen Augen der Sterne über der Einöde,
was tummelt ihr euch in der Wüstenei,
wo sind eure Mütter, wo eure Väter? SELA

Wir haben unsere Freude verloren wie Tränen im Sand,
unseren Müttern wurden die Zungen gezogen,
unseren Vätern wurden die Köpfe genommen,
unseren Brüdern versiegten die Herzen,
und wir raufen unsere Haare im Tanz und heulen ein Kelterlied,
denn unser Leben wurde geprüft und verworfen,
auf den Rücken von Schaben rollen unsere gütigen Augen,
im Gebiss der Füchse hängt unsere blutende Scham,
und ihr könnt nur lachen, nur lachen! SELA

Was sollen wir uns weiden an eurem Leiden,
unsere Zähne blecken über euren trockenen Brüsten,
was sollen wir leiden an eurem Leiden,
uns schrecken an eurem Schrecken,
was johlt ihr blind und nackt und mager auf unseren Ruinen,
was vertreibt ihr unsere Trostferne mit Geheul,
hier, wo keine Heilige ihre Gesetze mehr aufrecht zu halten gedenkt,
weil jeder jaulend sich selbst der Nächte ist,
weil jeder jammernd von sich selbst nur klagt? SELA

So ist die Welt, so ist die Heilige,
eine Grube für die Aufrechten,
eine Falle für die Unschuldigen,
ein Netz für die Freiherzigen,
ein Speer für die Zögernden,
und so zappeln wir mit unseren Körpern,
und so zeigen wir an, was uns und allen Frauen geschehen ist und noch geschieht,
zähneklappernd und jauchzend wollen wir die Heilige loben in der Wüste,
die von Thymian duftet und singt vom geschäftigen Reiben des Sands,
loben wollen wir sie für die guten Taten an den Müttern und Töchtern,
mit zuckenden Leibern wollen wir entweihen unsere Zucht,
die von den Männern kommt wie eine eiserne Umarmung,
und von den Tanten, und von den Tanten,
entwürdigen wollen wir unsere Körper im Sand und Staub der Einöde,
unter eurem beistehenden bellenden Lachen wollen wir mit verdrehten Kehlen und entwurzelten Gelenken die Unschuld gewinnen,
den unbekannten, den unbefleckten, den freien Körper.

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(Bild aus „Ecrits sur la danse d Isidora Duncan“, 1927, von Antoine Bourdelle (1861-1929), gemeinfrei, gefunden auf Wikipedia.)