Ich habe Geister gesehen

Was für komische Gefühle. Bis kurz vor dem Bahnhof konnte man sich gut fühlen. Es war doch noch die Stadt, die man kannte. Wenn auch leer, wenn auch ausgeräumt. Rüschen bewegten sich an Fenstern. Feiglinge, Drückeberger. Vorher Pfauen, jetzt Strausse. Aber er merkte schon, was gespielt wurde. Jemand versuchte irgendwo wie verrückt, die Zeit anzuhalten. Anders konnte es nicht sein. Seine Schritte waren jetzt langsamer als in der Elisabethenanlage. Langsamer und eindeutig noch etwas. Er lachte laut in die Stille hinein. Was für komische Gefühle. Noch in der Elisabethenanlage hätte er gesagt, ich bin ein Mensch. Doch jetzt, die Augen gebannt auf der Uhr im Portal, war er sich dessen nicht mehr sicher. Er war in eine Differenz hineingetreten. Die Uhr funktionierte, daran lag es nicht. Eben hatte der Minutenzeiger seinen Sprung absolviert und zitternd seine nächste Minute gefunden. Das Portal selbst sah gewaschen aus. Das Sandsteingrau leuchtete gelb. Er setzte sich etwa hundert Meter vor dem Portal auf den Boden, um es zu beobachten. Er wollte es nicht übereilen. Urteile erst, wenn du reif dafür bist, das war sein Motto. Je länger er schaute, umso klarer wurde die Erinnerung an das Gesicht. Der ganze Bau glich einem Gesicht. Wenn du nicht aufpasst, verpasst du eine Zuckung in den Zügen. Er versuchte, die Angst nochmals herauszulachen. Es gelang ihm ein Keuchen, immerhin. Er hätte nicht sagen können, was störte. Er hätte gerne gezeigt darauf, damit die Angst von seinem Finger verscheucht würde. Aber hier benötigte jedes Zeigen eine solche Überzeugung. Noch einmal betrachtete er die Falten und Runzeln des Gebäudes auf der Suche nach einer Verdeutlichung. Er kannte das Gesicht. Es brannte ganz hinten in den dunklen Korridoren seines Gehirns, wo Pilze in langen, seifigen Strähnen von den Decken wuchsen und wie leckende Zungen über die feuchten Tischtücher und die halb aufgegessenen, lange schon kalten Speisen in den Tellern strichen. Wenn er die Augen schloss, brannte und tanzte es. Und ein abschätziger Geruch war es, salzig und schmierig. Und der Bau leuchtete grün, ein Algenteich. Ein Algenteich, der spiegelte, was nicht zu sagen war. Mühsam kam er in die Höhe. Sein ganzer Körper war schwer geworden, mit Furcht-Häuten wie Öl-Schichten überzogen. Immerhin, immerhin. Wahrscheinlich war immer schon unwahrscheinlich gewesen. Das hatte ihn das Ausgucken aus seiner Bucht gelehrt. Was für komische Gefühle, das war nur der Anfang. Es war nur noch unwahrscheinlicher geworden. Aber er war sich dessen nicht mehr ganz sicher. Darum war er ja hier. Er hatte es in den Fingern, er würde mehr als Kadaver entdecken. Mit watenden Schritten ging er auf das Portal zu. Unter der grossen Pforte blieb er stehen. Geräuschvoll sog er zuerst die Luft ein. Pisse, Bier, Kotze, Kaffee, Luft unter den Flügeln von Tauben. Dann horchte er in die Halle hinein, die Augen noch geschlossen. Tatsache, Schritte. Nicht viele, aber einige, schlurfend. Hörte er auch ein leises Singen, eine Art Seufzen? Dann die Augen: eine leere Halle mit gekrümmtem Licht, der Boden bedeckt von Plastik und Kleidern. Offene Koffer. Im hinteren Teil hatte jemand die Koffer zu stapeln versucht. Schwer zu beurteilen, was hier vorgegangen war, Flucht oder Ankunft. Er schritt durch die Halle und bemühte sich, auf nichts zu treten, das Geräusche machte. Einige der Kleiderstücke wiesen schwarze Flecken auf. Das Seufzen war nicht mehr zu hören, als er in der Mitte der Halle stand. Das Schlurfen von Schritten konnte von dem Plastik kommen, der von kurzen, richtungslosen Windstössen bewegt wurde. Diese Windstösse, woher kamen die denn? Vor dem Portal war es eigentlich windstill gewesen. „Das ist wahrscheinlich,“ stiess er provozierend laut hervor. Seine Stimme kam keine zwei Meter weit. Er hatte den Eindruck, sie war, kaum aus dem Mund heraus, feucht und schlaff in die Kleiderstücke und Plastikfetzen gefallen. Wieder lauschte er lange. Kein Geräusch. Kein flatternder Vogel. Ah, eine Stille, die auf ein Geräusch wartete. Auf ein bestimmtes Geräusch. Komische Gefühle, gemischte Gefühle. Eine Stille, die sich nach einem Geräusch sehnte. Fiele hier eine Nadel, dachte er, das Klimpern der Nadel auf dem Asphalt würde auf der Stelle von dieser Stille verschluckt. Er ging auf die Treppen zu, und plötzlich war die Halle von einem Brummen erfüllt, dann von einem knirschenden kreischenden Stöhnen. Zwei der vier Rolltreppen hatten sich in Bewegung gesetzt. Etwas in ihrem Getriebe liess sie in regelmässigen Abständen jammern. Er zögerte, eine Zeitreise. Es gab nichts, was es nicht gab. Mit kleinen Schritten näherte er sich der rechten Rolltreppe. Er wartete auf die nächste Stufe, die sich aus dem Boden erheben würde. Die nächste Stufe kam und die nächste und die nächste. Hilfesuchend ergriff er den Handlauf. Ruckartig wurde er auf die Treppe gezogen, stolperte und schlug sich die Knie auf den Metallzähnen der Stufen. Sein Kopf hatte keine Zeit für den Schwindel, wurde vom Schmerz geflutet. Die Rolltreppe hatte ihn schon in die halbe Höhe hinaufgetragen, als er sich endlich aufgerichtet hatte. Die Handläufe unter seinem festen Griff ruckten in der Aufwärtsbewegung vor und zurück. Die Halle unter ihm weitete sich und fiel zurück. Gerade rechtzeitig drehte er sich in die Fahrtrichtung, da kippte ihn der Fahrsteig in die Passerelle hinaus. Einige Sekunden blieb er so stehen, seiner Füsse nicht mehr sicher. Vor ihm auf dem ersten Drittel der Passage waren hunderte Holzkisten ordentlich gestapelt, mit grossen Lettern markiert. Einige waren rot angestrichen, andere blau, dritte grün. Die Stapel waren unterschiedlich hoch, einige über mannshoch. Sie versperrten ihm fast ganz den Weg. Vom andern Eingang hörte er verhaltenes Rufen, stampfende Schritte. Er duckte sich hinter einen Stapel von grünen Kisten. Diese waren flach und länglich wie Särge. Ein Geruch von Ammoniak umgab sie. Er konnte nichts sehen und fand einen nächsten Turm, hinter dem er sich hinkniete. Diese Kisten waren rot, aus ihnen kam kein Geruch. Die Knie schmerzten, und als er sie berührte, stiessen seine Finger auf feuchten Stoff. Jetzt konnte er bis ans Ende des breiten Flurs sehen. Zwei Uniformierte standen dort zusammen und sprachen miteinander. Er konnte die Uniform weder einer Militärgattung noch der Miliz zuordnen. Die Hosen, Hemden und Westen waren ganz in blauem Kordstoff, an den Achseln hingen violette Troddeln. Die Männer trugen graue Barette, an denen etwas glitzerte. Er konnte nicht verstehen, was sie redeten. Dann begriff er, sie redeten Französisch. Darum konnte er sie nicht verstehen. Fremdes Gesocks, dachte er, was macht fremdes Gesocks auf unserem Boden, was haben die Franzmänner hier verloren? Die Franzosen machten doch Probleme erst zu Problemen. Sie waren dort im Einsatz, wo es etwas zu verschlimmern galt. Er erinnerte sich an das Erdbeben vor zehn oder fünfzehn Jahren. Da waren die Franzosen auch hinüber gekommen, um beim Aufräumen zu helfen. Sie hatten sich im Kannenfeldpark ein Denkmal errichten lassen. Sie hatten es neben dem Denkmal aus einem längst vergangenen Krieg aufgestellt, an den sich niemand erinnerte. Das Denkmal war schnell geschändet worden. Die Stadtverwaltung hatte es dann zum Schutz in eine Wellblechverschalung gesteckt, aus der es jedes Jahr zum Jahrestag herausgeschält wurde. Milizionäre standen daran Wache. Französische Brigaden salutierten davor. Ein dicker glatzköpfiger Franzose hielt eine lange Rede. Ah, komische Gefühle. Gefühle mit Ohnmacht und Verstörung. Was waren wir nur heruntergekommen. Doch war die Frage nun, wofür waren sie diesmal gekommen? Nie würde er den Anblick vergessen, wie die Franzosen in jenen Jahren einmarschiert waren. Zuerst über die Burgfelderstrasse, später auch über die Dreirosenbrücke. Vergangen, vergangen. Waren das hier Soldaten oder Söldner? Wer konnte das bei denen schon sagen. Er bewegte sich hinter den Kisten hindurch, bis er am linken Rand der Fussgängerbrücke stand. Die Holzverschläge der Marktbuden waren mit wilden Bildern bemalt. Explosionen, Drachen, wucherndes Fleisch. Einige der Läden waren geplündert worden, die Bruchstellen der Bretter leuchteten wie Stosszähne im Licht, das schräg durch die hoch gelegenen Fenster einfiel. Die Männer standen immer noch mit dem Rücken zu ihm. Er begann den Läden entlangzuschleichen. Langsam, er hob kaum die Füsse dabei. Den Rücken immer wieder an die Verschläge gelehnt. Einmal erschrak er, weil er dachte, jemand könne ihm aus dem Laden heraus die Hand auf die Schuler legen. Aber die Läden waren ja leer. Jetzt würde ihn ganz sicher niemand mehr festhalten, niemand mehr hindern. Die Zeiten waren vorbei. Sein Gesicht zeigte einen komischen Ausdruck, er wusste darum. Komische Gefühle, komischer Ausdruck. Die Lippen waren gespitzt, als wolle er gleich pfeifen. Seine Zunge war zu sehen. Er stieg mehrmals erfolgreich über herumliegende Bretter. Dann aber achtete er nicht auf seine Füsse und blieb an einem gesplitterten Brett hängen, fühlte Metall im Fleisch. Er zog vor Schmerz laut die Luft ein. Einer der Uniformierten drehte sich um, erblickte ihn und rief ihn mit einem „Hého!“ Zu sich. Humpelnd machte er sich auf den Weg, zuerst noch gebückt und in der Nähe der Buden. Dann korrigierte er seinen Weg und trat in die Mitte der Passerelle hinaus. Er konnte mit seinem Fuss nicht gut aufrecht gehen, weil der Schmerz ihn verbog, aber er versuchte es. Laut rief er durch die Halle: „Bonjour, les français!“ Auch der zweite Soldat hatte sich umgedreht. Die Gesichter der beiden Männer waren fröhlich und wohlgenährt. Sie waren ausgeschlafen und interessiert. Nicht wie damals. Aus zehn Metern rief er sie nochmals an: „Was macht ihr hier? Häh, was macht ihr hier?“ Er benahm sich wie der Hausherr. Er war ein wenig glücklich. Kaum war er heran, packten die beiden ihn zwischen sich und zogen ihn mit. Sie redeten nicht einmal mit ihm. Er machte zwei, drei Schritte mit, dann liess er sich hängen, die Spitzen seiner Schuhe schleiften auf dem Boden. Was für kindische Zeiten, dachte er. Worüber freue ich mich eigentlich? Er liess sich den Gang hinunterschleppen. Vor dem Bahnhof, auf dem Platz vor dem eingestürzte Hochhaus, standen braune Militärzelte. Soldaten oder Söldner gingen dazwischen langsam hin und her, mit gemächlichen Aufträgen. Als die Soldaten ihn auf die Füsse stellten und ihm befahlen, selbst zu gehen, sah er hinunter zu den Gleisen. Dort standen mannshohe Pferche, er konnte vier davon zählen. Die aus rohen Stämmen gebauten Ställe waren ohne Dach. Er konnte knapp erkennen, dass sich darin etwas bewegte, Haar wehte im Wind. Dahinter stand ein wartender Güterzug, die Maschine atmete prustend. Seine Ohren waren geblendet. Eben war es noch so still gewesen, so leer und unbelebt. Woher kam nun all die Aufregung, das Gestampf und das leise Wimmern? Die beiden Söldner führten ihn zu einem kleinen Zelt am Rand der Militärsiedlung. Vor dem Zelt war ein Tisch aufgestellt, dahinter eine Bank. Auf der Bank sass ein massiger Mann im Leibchen, die riesigen Hände auf dem aufgequollenen Holz des Tischs. In einer der Hände hielt er eine Pfeife, die eben angerauchte Glut war zu sehen. Auch er trug ein graues Barett, aber nichts glitzerte daran. Das Barett war speckig vom vielen Auf- und Absetzen mit schmutzigen Händen. Das Gesicht des Mannes war grau und abgetragen. Der Mann schaute von seinen Händen hoch und lachte bellend auf. Seine Stimme fistelte. „Was sehen meine müden Augen denn da?“ sagte der Mann hinter seinem Tischchen. „Kommt da etwa jemand zu Kreuz gekrochen?“ Was für komische Gefühle. Er konnte nur das Kinn auf die Brust drücken, nicht aufschauen. Er hatte ihn erst an seiner Stimme erkannt. Für Sekunden war er in der Differenz gefangen, für Sekunden gab es nur die Differenz. In ihr hallte sein ganzes Erleben wider. Über dem Platz war ein vielstimmiges Schlurfen und Flattern, eine unterdrückte Drohung. „Bist du es?“ fragte er mit der Stimme des jüngsten Bruders. Der andere kicherte und schob mit seinem Bauch den Tisch von sich weg. Holz und Kies machten ein Geräusch, als risse Haut, ein räusperndes Knallen. Er hob den Kopf und blickte seinem Bruder in die grauen Augen. Die Augen waren immer noch verschwommen und wässerig, jetzt aber wie verdrückte Pflaumen unter den Wülsten des Gesichts. Er spürte den Körper seines Bruders an seinem, die Hände klatschten auf seinen Hintern. Der Geruch von Zahnfäule, Tabak und Baustellenfeuern zwang ihn in die Knie. Er hatte noch starr, die Hände hängend, über die Schulter seines Bruders geblickt, an der Fassade des Hochhauses hing ein Stoffbanner mit einer Parole. „Beschützen heisst Zerstören. Zerstören heisst Retten. Retten heisst Häuten.“ Das hatte er noch lesen können, irgendwie um Unbeteiligung bemüht. Der Unterschied, in den er glitschte, roch nach aufgeschwollener Pappe im Gesicht. Arme hoben ihn hoch und wuchteten ihn herum. Das Stechen im Knie weckte ihn. Er blickte auf einen kindlichen Kopf mit langem Haar hinunter. Der junge Mann strich eine Paste auf seine Wunde am Knie. Langsam rollte er einen Verband auf und mit weit ausgebreiteten Armen um das Knie herum. Dabei flüsterte er. War das ein Lied oder ein Gebet? Er bemerkte, dass der Verbundene wach war. Es war ein junger Mann mit einer hellen, fast durchsichtigen Haut, seine Augen waren so dunkel, sie waren violett. „Oh, ma foi,“ lispelte der Soldat. Mit gesenktem Kopf hörte er die schnellen leichten Schritte und den Ruf nach dem „Colonel“. Das war also sein Bruder, da war also sein Bruder. Er wünschte sich, nochmals wegsinken zu dürfen. Der Jnge kam mit einem grossen Blauen zurück, der ihn ungefragt unter der Achsel packte und mitnahm. Da sass er wieder, Tisch zur Seite geschoben, Beine gespreizt, die Pfeife rauchte. Grosse Hände wie Flossen auf den Knien. „Ueli, Ueli,“ begrüsste er ihn, „immer noch ein Kippmeinnicht, häh?“ Der Mund war ihm voller Spucke, sein rechter Fuss schmerzte. „Guten Tag, Erich,“ sagte er leise. Er schaute ihm direkt in die Augen eines Molchs. „Heiss nicht mehr Erich, du liebe Feige,“ sagte der Kröterich, „heiss jetzt Motorman, ein N bitte. Hast Glück, wollten heute zum Hafen runter. Wären dann nicht mehr da gewesen.“ Beide schwiegen. Motorman sagte: „Einmal nicht verpasst, häh?“ Fast hätte Ulrich gesagt, einmal ist keinmal. Aber er ersparte dem Bruder die Freude. Vater sollte tot, Vater konnte ihm auch weiterhin gestohlen bleiben. Er blinzelte, um das Schweigen andauern lassen zu können. Das Plakat bewegte sich im Wind, ein Segel. Die Aschehaare des Jungen umgaben ihn wie eine Medusenglocke, leise lockten sie sich im Wind. Lockten sich wie seine Gedanken, krausten sich wie sein Wille. „Wollten zum Hafen runter“, nahm der Dicke wieder auf, „zum Hafen runter mit unserer kostbaren Fracht.“ Der Refrain eines Liedes. Ulrich stellte fest, dass auch sein Bruder die Augen niedergeschlagen hatte. „Und was… suchen die Franzosen hier?“ fragte er. „Die Zeiten sind verschieden, sehr verschieden,“ sagte sein Bruder, „bei den Franzmännern, da haben sie noch Menschen, Kohle, scheint’s Regierung. Aber auch dort kommt es ins Rutschen. Verstehst du? Und da kommen sie zu uns, kommen sie zu mir.“ Ulrich versuchte einen Faden von Denken zu erfassen, es gelang ihm nicht. Das Husten eines Motors fuhr ihm dazwischen, ein zweitaktiges Rumpeln. Der Zug fuhr an. „Da fährt er, hinüber in die Welt, Ueli. Wie kostbar das ist, die Welt.“ Wieder schwiegen sie, der Junge schwankte wartend an der Seite der Unke. „Ich bin erstaunt, ich war erstaunt, dass es die Welt noch gibt. Wir hatten gedacht, unser Leben ist zu Ende. Wir hatten gedacht, jetzt haben wir es geschafft.“ Der Junge beendete sein Schwanken und beugte sich vor. „Vater, wir müssen,“ sagte er mit einer alten Stimme, „die Löwin wird nicht warten wollen.“ Jetzt erst blickte Erich auf. „Du kommst nicht mit, häh? Du wartest das Verscheiden der Zeiten ab. Ich kenne dich“, eine Spur von Neid verdunkelte seine Stimme, „zuwarten ist deine Devise. Du wirst warten wollen, was dahinter kommt. Mit baren Händen, auf offne Enden.“ Die Wörter aus dem Refrain hätte er fast gesungen. Erich stemmte seine Hände auf die Knie und wuchtete sich in die Höhe. Hinter ihm öffnete sich der braune Stoff des Zelts, ein Mädchen mit einem blauen langen bleichen Rock kam heraus, das Haar von der Farbe von Luft. Sie trug einen weissen Schosshund in den Armen. „Ich geh mal Gassi mit Emil“, sagte sie. Erich wirbelte herum. „Du bleibst im Zelt, dumme Kuh“, sagte er sehr laut, „den Hund lässt du hier.“ Das Mädchen bückte sich und liess den Hund springen. Der Hund schoss zu Erich, schleifte eine schwarze Leine hinter sich her. Rechtzeitig fasste der Junge nach der Leine und nahm sie vom Boden auf. Der Hund nutzte die Länge der Leine aus, schnupperte, reckte die Nase in die Luft. Winselnd kehrte er zu dem Jungen zurück, hockte sich an Erichs Seite hin, immer noch schnüffelnd, zitternd. „Colonel“, sagte eine Stimme im Rücken Ulrichs, „wir sind Abruf.“ „Gut, gut“, Erich schüttelte seine Schultern, „dann wollen wir mal.“ Die grauen Augen überfielen Ulrich und häuteten die Neugier bis auf den Zweifel. „Was machen wir mit dir, Däumling?“ fragte er ihn. Die Stimme in seinem Rücken sagte: „Sollen wir auch zum Vieh?“ „Nein, dafür ist er doch zu alt, crêtin,“ sagte Erich, „lass ihn gehen. Aber…“ Er blieb Schulter an Schulter mit ihm stehen, der Hund zwischen ihnen. „Aber wenn du nochmals kommst, nochmals dich finden lässt, muss ich dich einspannen. Deine Talente möchte man haben. Ja, die möchte man gerne haben. Das weisst du ja.“ Und im Fortgehen, begleitet von dem Aschejungen und dem blauen Soldaten sagte er nochmals laut zu sich: „Möcht man haben, ja.“ Die drei Gestalten verschwanden zwischen den Zelten, Richtung Gleise. Niemand war mehr auf dem Platz zu sehen, die Zeltbahnen flappten im Wind, der den Rauch herantrug. Das Mädchen stand noch vor dem braunen Zelt. Die Sommersprossen tanzten über seine Wangen wie Rauch. Die Augen grünten vor Zorn. Heftig wandte es sich um und entfernte sich in der anderen Richtung. Ulrich hörte den Hund bellen, das Schreien einer Krähe. Jaulende Menschenstimme. Komische Gefühle, was. So stand er da, sank in die Tiefe des Raums. Die Tiefe des Raums war anders, müde und knarrend, plötzlicher heftiger Mundgeruch, Filz auf der Zunge. Sein Nacken war ganz steif. Seine Fussballen tasteten sich zuerst vor. Der Schmerz erreichte ihn, verebbte, leuchtete auf. Die Socke in seiner rechten Sandale war braun vollgesogen. Keine Zeit, keine Zeit. In seinem Körper knackte etwas und brach, seine Gedanken? „Ja, das wäre logisch, zweimal gebrochen gleich entkrochen,“ sagte er zu sich. Er wusste nicht, was er sagte, ausser, es stimmte. Stimmte sich der Zeit hinzu. Aus den Zelten heraus, sah er Wolken, knapp über dem Boden. Menschen aus Wolken oder Wolken aus Menschen. Letzteres. Die Franzmänner hatten die Koppel aufgemacht, in denen er Pferde gesehen hatte. Jetzt ging er dem Unterschied entgegen. Jetzt kam er dem Unterschied näher. Jetzt kam ihm der Unterschied entgegen. Ganz nahe, anders. Er schlüpfte wehr- und widerstandslos hinein, in dieses Dotterlicht. Menschen aller Art, jung wie Brombeeren. Entstiegen sie ihm oder dem Korral? Tief wurde die Zeit, saugend wie der Mund eines Säuglings. Seine Augen, die sahen, sanken immer weiter zurück, in der Zeit. Lumpen, blätternde Haut, wehende Mähnen. Giraffenhälse. Mühlenaugen. Achte darauf, achte darauf, sagte er sich, komme nicht darunter. Tiefe, rasselnde Wasser. War das jetzt die weite Welt, hier im Bahnhof? Erich Nadler stand am vordersten Güterwagen, die Hände vor der Brust, Gesicht vom Wind entfärbt. Sein ganzer Mund war in einem Lächeln abgefallen. Die Gestalten tunkten ihre Füsse in den Kies des Bahndamms, aufrechte Korallenbleiche. Was für ein weiter Spalt, dachte er, zog ihn auf mit aller Kraft, die Augen weit auseinander gezogen. Ein Augenpaar kam zu ihm, fast berührte es ihn, blutig umrandet, halbe Wange. Wohin, sagte es, wohin? Er konnte nicht einmal zurückschrecken. Er konnte nicht einmal mehr sprechen. Seine komischen Gefühle kamen nicht mehr zurecht, nicht mehr zurecht kamen sie mit den tosend taumelnden, schlurrend Schlafenden. Komische Gerüchte das, sogen und sogen und sogen an ihm. Tief hinein sogen sie ihn, und drüben war auch kein Halt mehr. Wehende Mähnen, zerfliessende Züge, Lumpen, blutige Lumpen. Niemand sah ihn, er sah niemand. Er hatte sich abgewandt von den suckelnden Augen, von den grünen Mienen. Hin und wieder war Geist aufgeblitzt in den kindlich unvollständigen, aufgedröselten Menschen, die sich gegenseitig stützten, hielten, wimmernd singen wollten. Immer noch singen wollten. Blutige Liedfetzen, „die Löwin wird nicht warten wollen“ und „die Kinder wild im Garten tollen“. Sangen ins Verstummen hinein. Ulrich riss sich vom Bann los. Er hatte es gesehen. Und es war in ihm so komisch, er musste immer daran herumfühlen. Hornhaut, an der du kratzt und zupfst. So komisch war es. Sein Körper selbst riss in Lappen, ärmlich und unterschieden. Unterschieden wovon? Er war in einen hoppelnden Trab gefallen, hüpfende weisse Krähe. Unterschieden wovon? Ja, unterschieden wovon denn? Im Nachtigallenwäldchen, dort war sein Schlupf. Unterschlüpfen ist keinmal. Ist einmal unterscheiden.


(Bild von Nick Magwood auf Pixabay.)

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